9. September 2011

ES NIMMT NICHT WENIGER UND GIBT NICHT MEHR HINZU


Foto: U-Bahnhof Leopoldplatz. 2011, Sabrina Schieke
© Sabrina Schieke

ES NIMMT NICHT WENIGER UND GIBT NICHT MEHR HINZU



Liebe Sabrina,


du hast mich geben einen Beitrag für deinen Blog EINE SITUATION WIE EIN SPIEGEL zu schreiben. Nun habe ich endlich deine Bitte, deine Aufforderung zum Nachdenken, angenom­men. Ich berichte von meinen Beobachtungen und Gedanken, die ich mir am 16. und 20.07.2011 im U-Bahnhof Leopoldplatz, vor deinem Plakat, gemacht habe.  
Die Arbeit ist ein Plakat an einer Werbeplakatwand hinter den Bahngleisen. Sie hängt inmitten der Werbung, eingereiht wie getarnt, sodass ich fast daran vorbei gelaufen wäre. Das Plakat zeigt die gegenüberliegende Stelle des Bahnsteigs, vor der es hängt. Ich sehe also auf den grauen Bahnsteig und die gekachelte Wand, an der ein Werbeplakat für Effes Bier und ein Schild mit der Aufschrift Leopold hängt. Unter der metallenen Sitzbank, in der Bildmitte, erstreckt sich ein großer dunkler Schatten. Dicht daneben steht ein Mülleimer, weit dahinter zwei graue Betonsäulen, die die grüne Decke stützen, an der zwei Neonlichter leuchten. Nach außen weisen zwei Seitenwände. Eine mit einer abgeschrägten Fläche, über der die Rolltreppe unsichtbar, die aussteigenden Fahrgäste empor trägt. Darunter hängt ein Plakat, neben einer blauen Tür, dass einige kulturelle Angebote preist, wie Konzerte oder Theater. Am unteren Bild­rand stehen die Aufschriften http://sabrinaschieke.blogspot.com, Wall und Mart Stam. So als wäre dieses Plakat wie alle anderen, als werbe es für etwas außerhalb des Bahnsteiges. Als sei Sabinaschieke.blogspot.com eine Marke, die nur gekauft, besucht oder geklickt werden möchte.
Ich fange an das Plakat mit meiner Umgebung, zu vergleichen. Ich prüfe die Farbtöne. Die Abbildung ist etwas dunkler, ja dumpfer und matschiger als die Realität. Das Grün auf dem Bild geht mehr ins Ocker, als ich es hier um mich herum beobachten kann. Der Bahnsteig auf dem Bild fällt nach hinten ab. Der Fotograf muss wohl sehr groß gewesen sein.Ich schaue mich um und entgegen meiner Erwartung, finde ich den Mülleimer neben mir zu meiner Linken. Ich hatte ihn aufgrund des Abbildes, auf meiner rechten Seite erwartet. Ich schaue auf die Schrift auf dem Plakat – tatsächlich – es ist alles deutlich zu lesen, ich schaue also nicht in einen Spiegel. Was soll das? Frag ich mich unwillkürlich und zugleich, wieso kann ich dem Hier nicht etwas offener begegnen? - Ich fühl mich zurück geworfen und abgeprallt, fast verprellt. Im Gegensatz zu all den Werbebotschaften, in die ich hinein und abdriften kann, bietet mir dieses Bild keine Möglichkeit des Eintauchens. Ich bleibe an der Oberfläche haften und werde wieder zurück auf den Bahnsteig geschmettert. Ich schaue auf meine Hände, meine Füße, so als bliebe mir nichts anderes übrig. 
Wieso sind keine Menschen auf dem Bild? Als gäbe es niemals Menschen in den U-Bahnhöfen. Nein - ich soll wohl nicht abgelenkt werden von dem Betrachten meiner Hände und Füße. Ich soll nichts Spannenderes und Interessanteres auf dem Bild finden, als um mich herum zu sehen ist. Ich soll nicht eintauchen. Ich soll mich stattdessen umsehen und vergleichen. Ich soll mich langweilen, mir auf die Füße sehen und die Menschen um mich herum beobachten.
Ich habe auf einmal das Gefühl von einer fremden Macht geleitet zu werden. Ich ärgere mich darüber und schaue trotzig zurück auf das Plakat. Sodann kommt mir der Gedanke, dass mir das Plakat im Gegensatz zu den anderen viel mehr Freiheit lässt, als ich das zuweilen gewohnt bin. Denn es wirbt überhaupt nicht, auch wenn ich das zunächst durch die irreführende Bildunterschrift vermutet habe. Es ist erst einmal nur da. Es ist, und mehr nicht.
 

Mit der Zeit verändert sich etwas in mir. Langsam wird mir dieses Plakat ein Gegenüber, das zurück guckt. Als sei es kein Objekt, kein Ding, sondern etwas das mich auffordert und mich anspricht ihm ins Gesicht zu sehen. Das wenige Außen auf das, das Plakat verweist ist, seine Urheberin, die Künstlerin Sabrina Schieke. Ich kann Sabrinas Blick nachspüren, kann den Bahnsteig durch ihre und meine Augen sehen. Sie weist mit ein paar bedeutenden Blicken auf

Einzelheiten der Umgebung hin. Ich setze mich auf die leere kalte Bank und betrachte die Situation.
 Wenn ich in den Spiegel sehe, sage ich manchmal gedankenversunken ICH. Auch passiert mir das manchmal wenn ich gelangweilt in der U-Bahn an den andern Fahrgästen vorbei, in die vom schwarz des Tunnels spiegelnde Fensterscheibe, blicke.Während ich prüfend mein Gesicht betrachte, frage ich mich, was ist es mit meinem Gesicht, das ich auf einmal ICH wispere? Was haben denn meine Hände und Füße weniger? Zumeist vergesse ich mich, und dann ist es jedes Mal ein kleiner Schock mir im Spiegel, zu begegnen. Mein Gesicht ist mir fremd, obwohl es mich doch tagtäglich begleitet, und ich an den Gesichtern der anderen Menschen ablesen kann, ob sie mich als ICH oder nur als irgendjemand wahrnehmen. Nirgendwo wird das deutlicher als in der Anonymität der Großstadt, in dem engen Nebeneinander der öffentlichen Verkehrsmittel, in der U-Bahn.
Ich erinnere mich häufig anderen Menschen ungeniert ins Gesicht gestarrt zu haben. Bis diese irritiert meinem Blick auswichen, oder genervt zurück guckten. Ich war wohl auf der Suche nach deren ICH. Auch das vergesse ich häufig.In der U-Bahn herrscht das ungeschriebene Gesetz, dass man sich die anderen Menschen schon ansehen und mustern darf, sie allerdings nie zu aufdringlich anstarren sollte. Es gilt als höflich, meinen Blick zu senken und weg zu sehen, fühlt sich mein Gegenüber beobachtet. Beobachtet mich vielleicht dieses Plakat? – Ach, Quatsch – ein Plakat, welches die Fahrgäste belästigt, ist nun aber ein albernes Hirngespinst. Wieso fühle ich mich angegriffen und zurückgeworfen? Was genau irritiert mich? – Vielleicht komme ICH in dieser Welt überhaupt nicht vor – Ich fehle in dem Plakat, ich fehle in dieser Welt und werde mir dessen umso mehr bewusst, je länger ich auf meine Hände und meine Füße starre.
Alles um mich herum ist für Menschen gebaut. Der Bahnsteig ist wie ein Gefäß, eine Flasche, die ab und zu voll und dann wieder leer ist. Die Ströme der Menschen, die sich einzeln oder in Gruppen auf dem Bahnsteig ansammeln, ihn immer weiter anfüllen um ihn mit einem Schlag, mit dem Eintreffen der U-Bahn zu entleeren. Die immer wieder neu eintreffende Flüssigkeit ergießt sich über die Rolltreppen zum Ausgang. Wie ein Sturzbach eilen sie dahin. Alles ist einfach und praktisch. Der Boden und die Wände sind gekachelt, um sie leichter reinigen zu können. Der Boden weist einige Markierungen und Rillen auf, damit niemand, selbst ein Blinder, vom Bahnsteig ins Gleisbett fällt. Es sind Kameras „ für die allgemeine Sicherheit “ angebracht. Hier unten ist es zu jeder Jahreszeit zügig und kühl. Fast alle Menschen kommen, um wieder zu gehen, keiner beleibt, weil er bleiben will. Nur ein Obdachloser oder Pfand­flaschen-Sammler durchpflügt systematisch jeden Mülleimer auf dem Bahnsteig. Doch selbst er ist nach getaner Arbeit schnell wieder entschwunden. Der Raum ist so anonym wie die Gesichter der Fahrgäste in der U-Bahn. Das Plakat spiegelt also nur mein Unwohlsein in diesem Raum wieder. Es nimmt nichts weniger und gibt nichts mehr hinzu.


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Katharina Kamph

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